Berliner Zeitung | 22. April 2010

Mundraub kommt wieder in Mode

In Spanien nehmen wegen der Rekord-Arbeitslosigkeit
Lebensmitteldiebstähle zu. Andere Arme leben von gespendetem
Essen

Von Dirk Engelhardt

BARCELONA. 30 bis 40 Euro kosten die Spezialtaschen, die innen mit
Aluminium gefüttert sind, und mit denen sich die Sicherheitsanlagen der
Warenhäuser und Supermärkte austricksen lassen. Wo man sie kaufen kann, sei
in gewissen Kreisen kein Geheimnis, "man muss es nur wissen" sagt Ignacio
Beltran. Er ist Sicherheitsangestellter in einem der großen Kaufhäuser von
Barcelona. Kürzlich kassierten seine Mitarbeiter an einem einzigen Tag 50
solcher Taschen ein. Es war der bisherige Rekord. Offiziell wurden im
vergangenen Jahr in Spanien 2,4 Millionen Diebstähle registriert, 3,8 Prozent
mehr als 2008. Die Dunkelziffer dürfte aber um einiges höher liegen, da längst
nicht jeder Diebstahl einer Thunfischdose angezeigt wird.

Opfer der Immobilien-Blase

Dass es mehr Ladendiebstähle gibt, ist im wesentlichen der Wirtschaftskrise
geschuldet, die Spanien besonders hart getroffen hat. Bei rund 20 Prozent liegt
die Arbeitslosigkeit landesweit. Vor allem viele Bauarbeiter haben ihre Jobs
verloren. In großem Stil waren zu Zeiten der Immobilien-Blase Südamerikaner
und Nordafrikaner für den Wohnungsbau angeworben worden. Jetzt, da wegen
der Wirtschaftskrise fast alle Bauvorhaben gestoppt sind, werden sie nicht mehr
gebraucht. Aber die wenigsten wollen zurück in ihre Heimat.

Beltran und seine Mitarbeiter haben viel zu tun. "Vor allem Ausländer begehen
Diebstähle in den Supermärkten, wir schätzen, zu rund 80 Prozent", sagt er.
Doch auch Spanier, die vorher nie mit dem Gesetz in Konflikt gekommen waren,
zählen immer häufiger zu den Dieben. "Das sind Menschen, die einfach deshalb
klauen, weil sie kein Geld haben, um Essen zu kaufen", hat Beltran beobachtet.
In der Zeit vom 20. bis zum 30. jedes Monats gebe es auffallend mehr
Diebstähle. Denn bei vielen, die noch Arbeit haben, reicht das karge Gehalt nicht
bis zum Monatsende.

Wie und wo man am besten stiehlt, lässt sich durch wenige Klicks im Internet
herausfinden. Man tauscht sich dort mittlerweile in Foren wie
www.yomangoteam.com aus. Hier erhalten Neulinge Tipps, mit welchen
Methoden man wo am effektivsten auf Beutezug geht. Natürlich rüstet auch die
Gegenseite auf. Ladeninhaber in Spanien haben im vergangenen Jahr 745
Millionen Euro in Sicherheitssysteme investiert. "Es werden jetzt Dinge
mitgenommen, die vorher kaum geklaut wurden", erzählt Beltran. Auch Waren
wie Würste oder Konserven lassen Geschäftsinhaber inzwischen in die
Sicherheitssysteme integrieren.

Die ehrlichen Armen wählen andere Methoden der Nahrungsmittelbeschaffung.
Susan Haynes, eine Engländerin in Barcelona, hält sich mit Sprachunterricht
über Wasser. Auch sie ist angewiesen auf Essen, für das sie nichts bezahlen
muss. Haynes wohnt im Raval-Viertel, einem Teil der Altstadt, in dem viele
Arbeitslose und sozial Schwache leben. "In letzter Zeit sehe ich hier mehr und
mehr Menschen, die in Mülltonnen wühlen. Traurig ist, dass darunter viele
Ältere sind, auch Einheimische." Der oft gelobte Familienzusammenhalt in
Spanien, schließt sie daraus, sei wohl auch nicht mehr so wie früher. Susan
macht es wütend, dass täglich Nahrungsmittel in Container geworfen werden,
obwohl sie noch essbar sind. Sie fragt in den Geschäften nach. "Warum soll ich
Brot kaufen, wenn mir die Bäckerin bei Ladenschluss drei Baguettes in die Hand
drückt, die sonst mit Sicherheit weggeschmissen würden?"

Spanien ist nicht das einzige Land Europas, in dem sich die Armut ausbreitet.
"Es gibt laut Statistik prozentual mehr Arme in Deutschland als in Spanien,
beides sind schließlich Länder des liberalen Kapitalismus", sagt Jordi Peix i
Massip. Auf seiner Visitenkarte steht Vizepräsident der Fundació Banc dels
Aliments - der Lebensmittelbank. Er arbeitet ehrenamtlich für die gemeinnützige
Organisation, die Bedürftige versorgt und gegen die Vernichtung genießbarer
Lebensmittel kämpft.

"Als Anfang 2009 die Krise über uns hereinbrach, da wurde unser soziales Netz
in Spanien auf die Probe gestellt", sagt Peix. Als dann die Arbeitslosenzahl auf
ein Rekordhoch schnellte, stieg auch die Menge der Lebensmittel, die die Bank
an Bedürftige verteilte. 7 500 Tonnen waren es 2009, sie gingen an 300
Institutionen in Barcelona. Diese wiederum versorgen 85 000 Arme. "Und von
denen sind rund die Hälfte Ausländer", sagt Peix. Die meisten Lebensmittel, die
sich in der riesigen Lagerhalle der Banc dels Aliments in der Nähe des Hafens
stapeln, bekommt die Organisation direkt von den Erzeugern. Miete für die Halle
muss sie nicht bezahlen, das übernimmt die Landesregierung.
EU-Pfirsiche für Bedürftige

"Die Supermärkte sind sehr genau mit dem Haltbarkeitsdatum, zum Beispiel bei
Joghurt", erklärt Peix. Angeblich sei es für die Produzenten billiger, Produkte

IMPRESSUM KONTAKT MEDIADATEN
wegzugeben, als sie selbst zu entsorgen. So stapeln sich in den Hallen Paletten
mit Cornflakes, Orangensaft, Toastbrot, Oliven in Dosen, gefüllten Tortellini und
Thunfisch, die nicht mehr lange haltbar sind. Um rund 30 Prozent sind die
Lieferungen der Hersteller in den vergangenen zwei Jahren gestiegen. Peix
erklärt das so: "Es ist für eine Firma heute wichtig, sich als nachhaltig arbeitend
und sozial zu präsentieren. Das können Sie auf deren Webseiten im Internet
nachlesen. Corporate Responsibility lautet das Schlüsselwort." Soziales
Engagement sei eben gut fürs Image.

Stolz zeigt Peix auf eine Palette mit Pfirsichsaftflaschen. "Den können Sie im
Handel gar nicht kaufen", sagt er. "Das ist reiner Saft, extra für uns hergestellt.
Im August, wenn es in Spanien Pfirsiche im Überfluss gibt, leitet die Europäische
Union einen Teil davon an den Safthersteller, und die Landesregierung trägt die
Kosten für die Glasflaschen. So bekommen wir dann exklusiv und natürlich
kostenlos diesen Pfirsichsaft." Auf den Etiketten steht, dass ein Verkauf nicht
gestattet ist.

Peix deutet auf einen Regalabschnitt, in dem sich Kisten mit der Beschriftung
eines Hightech-Unternehmens stapeln. "Das sind Spenden einer Initiative von
hundert IT-Firmen aus Barcelona, die ihre Mitarbeiter aufriefen, unverderbliche
Nahrungsmittel zu spenden." Auch einige Supermärkte hätten damit angefangen,
Container aufzustellen, in die Kunden noch haltbare Lebensmittel als Spenden
geben können.

Es gibt auch Arme, die wie die Engländerin Susan Haynes direkt in
Supermärkten nach Waren fragen, die entsorgt werden sollen. "Davon raten wir
ab", sagt Peix, "wir alle wissen, dass angeschimmelte oder verdorbene
Nahrungsmittel schädlich sind." Aber in den Markthallen der Stadt haben die
Obstverkäufer alle ihre "Stammkunden", mittellose Rentner oder Arbeitslose,
denen sie das übrig gebliebene Obst und Gemüse am Ende des Tages in die
Tasche schütten.